Papier war für den Seetaler Verpackungsmaschinen-Hersteller ATS-Tanner nicht mehr als eine Handelsware. Bis Inhaber Serge Tanner aus dem Verbrauchsmaterial ein Alleinstellungsmerkmal machte.
Die Konsum- und Warenwelt ist voller Dinge, die einem vertraut vorkommen, ohne dass man sie benennen könnte; zum Beispiel die typischen Verpackungen von frischen Spargeln oder die Papierstreifen um Multipack Aktionsangebote. Die Fachperson spricht in beiden Fällen von sogenannten Banderolen. Banderoliert wird halb- und vollautomatisch; und zwar überall dort, wo lose Produkte für den Verkauf, die Lagerung oder die Spedition zusammengefasst werden müssen.
Wie viele Banderoliermaschinen weltweit installiert sind, lässt sich nicht eruieren. Sicher ist aber, dass der Markt- und Technologieführer aus dem Aargau kommt: Es ist die Meisterschwander ATS-Tanner.
Serge Tanner, der Sohn von Gründer Alois Tanner, führt das Unternehmen seit 2011. Der Personalbestand steigt kontinuierlich und liegt bei 165 Mitarbeitenden. Die Exportquote beträgt 90 Prozent. Produziert werden die Banderoliermaschinen im Seetal, beworben auf 30 Fachmessen rund um den Globus.
Der Chef ist jeweils mit von der Partie. Der 48-jährige Betriebswirt erinnert sich deshalb noch gut an die FachPack 2019 in Nürnberg. «Unsere Kundinnen und Kunden redeten nur noch von der deutschen Verpackungsverordnung; es war, als stünde die Zukunft der Banderole auf dem Spiel.»
Es ging um die rund 15 Mikrometer dicken, beidseitigen Polymerschichten auf den handelsüblichen Papierbanderolen. Sie erlauben die zugfeste Versiegelung der Gebinde per Wärme oder Ultraschall, können aber Störungen im Wiederaufbereitungsprozess verursachen. Die Verpackungsverordnung drohte nun mit der Einstufung als Verbundmaterial, sollte es nicht gelingen, den Fremdstoffanteil von knapp 30 auf unter fünf Prozent zu drücken.
«Banderolenpapier, das diesen Anforderungen genügte, war zu jenem Zeitpunkt nicht auf dem Markt», erinnert sich Serge Tanner, «wir waren in Zugzwang.» Zurück im Seetal ging er an die Arbeit; wissend, dass er es diesmal mit einer besonderen Herausforderung zu tun hatte.
Denn mit Verbrauchsmaterialien hat ATS-Tanner bisher nur gehandelt. Die 15-köpfige Entwicklungsabteilung ist auf die Weiterentwicklung der Maschinen ausgerichtet – sie befasst sich mit Software, Steuerungen und Sensoren.
In dieser Lage erinnerte sich Tanner an die Begegnung mit einem HTZ-Mitarbeitenden. Er rief in Brugg an und wurde mit Reto Eggimann verbunden. Aufgrund der Beratungsgespräche evaluierte der Verfahrens- und Produktionstechniker geeignete Forschungspartner. Anfang 2020 startete mit dem Labor für Polymere Beschichtungen der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften ZHAW eine Machbarkeitsstudie. Sie zeigte auf, dass man die bis dahin aufgetragenen Polymerschichten durch eine wasserlösliche Variante ersetzen könnte.
Ermutigt von diesen Resultaten, setzte Serge Tanner mit dem HTZ ein Folgeprojekt auf. Reto Eggimann gelang es, über den Forschungsfonds Aargau eine Anschlussfinanzierung in der Höhe von 70 000 Franken zu sichern. Neu an Bord kam der Papierzulieferer der Tanners: eine familiengeführte Druckerei aus dem Toggenburg.
Anfang 2022 war es so weit: Das von einem Team um Jan Inauen (siehe untenstehendes Interview) entwickelte neue Papier war so weit optimiert, dass es sich auf grossen Druckmaschinen produzieren liess. Nur wenige Monate darauf erlebte die jetzt «TruePaper» genannte Innovation an der Berliner Fruit Logistica ihre Weltpremiere.
«Die Reaktionen waren extrem positiv», erinnert sich Serge Tanner. Zu den ersten Käufern zählte eine Gruppe von andalusischen Gemüseproduzenten. Im Frühling 2022 banderolierten sie ihre erntefrischen Zucchetti für eine deutsche Supermarktkette zum ersten Mal mit dem TruePaper aus der Schweiz.
Mission erfüllt, könnte man sagen. Doch dann kam die schlechte Nachricht vom Spediteur: Bei der Entladung der Camions stellte sich heraus, dass einige Gebinde während der Fahrt aufgesprungen waren. Der ökologische Vorteil der neuen Beschichtung – die Wasserlöslichkeit – hatte sich beim Transport von Frischgemüse als Nachteil erwiesen.
Aufgeben war für Serge Tanner keine Option. Denn eines war ihm unterdessen klar geworden: Das neue TruePaper – ursprünglich entwickelt, um bestehende Kunden zu beruhigen – hatte das Zeug zum Alleinstellungsmerkmal für das ganze Unternehmen.
Den Einstieg in das Geschäft mit Banderoliermaschinen schaffte Gründer, Seniorchef und Verwaltungsratspräsident Alois Tanner als Händler. Firmensitz war das Eigenheim im aargauischen Fahrwangen. 40 Jahre ist das her. Heute werden mit den Ultraschall-Banderoliermaschinen von ATS-Tanner Banknoten in China und Indien verpackt, Tabletten in Basel und Snackboxen in Dubai. Das Unternehmen hat sieben Auslandsniederlassungen und beliefert fünf vertikale Märkte: die grafische und die fertigende Industrie, die Lebensmittel- und Pharmaindustrie sowie die Logistikbranche.
Das HTZ suchte für die ATS-Tanner AG einen geeigneten Forschungspartner und stellte den Kontakt zum Labor für Polymere Beschichtungen der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften ZHAW her. Nach der vom HTZ finanzierten Machbarkeitsstudie konnte das Folgeprojekt mit Unterstützung des Forschungsfonds Aargau durchgeführt werden.
Jan Inauen arbeitet im Labor für Polymere Beschichtungen der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften ZHAW. Er hat das Projekt «TruePaper» wissenschaftlich begleitet.
ATS-Tanner wandte sich aufgrund einer neuen regulatorischen Vorgabe an Ihr Labor. Kommt das oft vor, Herr Inauen?
Für uns ist das sogar ein durchaus typischer Fall. Das Kunststoff-Recycling ist einer der Schlüssel zur angestrebten Kreislaufwirtschaft.
Für die Tanners waren Polymerbeschichtungen technisches Neuland. Welchen Einfluss hatte das auf die Zusammenarbeit?
Es erfordert Vertrauen und eine gute Planung. Bei TruePaper konnten wir – dank dem HTZ – mit einer Machbarkeitsstudie (MBS) starten. Sie zeigte auf, dass die vom Kunden formulierte Idee zu wirtschaftlichen Bedingungen realisierbar sein könnte. Mit einer MBS lassen sich die finanziellen Risiken auch für Unternehmen begrenzen, die über wenig internes Know-how verfügen.
Wie gingen Sie beim Projekt «TruePaper» vor?
Wir recherchierten, wie Polymere ausserhalb der Verpackungsindustrie versiegelt werden, studierten die wissenschaftliche Literatur und entwickelten in einem Brainstorming Ideen. Anschliessend ging es ins Labor, wo wir die erfolgversprechenden Ansätze weiterverfolgten.
Verfügten Sie über die nötigen Einrichtungen?
Wir betreiben einen gut ausgebauten Maschinenpark und eine ausgezeichnete Analytik. Tests zur Zugfestigkeit der Versiegelungen oder zur Haptik der Beschichtungen führten wir auf unseren eigenen Geräten durch. Doch manchmal ist Improvisationskunst gefragt. Eine Bandoliermaschine in Tischgrösse brachte uns Serge Tanner in seinem Auto nach Winterthur.
Wie lässt sich die Beschichtung von TruePaper chemisch charakterisieren?
Es handelt sich um einen thermoplastischen Kunststoff. Mehr darf ich leider nicht verraten. Denn ATS-Tanner hat sich entschlossen, das auf dem Projekt gewonnene IP (Intellectual Property, engl. für geistiges Eigentum, Anm. d. Red.) geheim zu halten.
Geistiges Eigentum ist ein gutes Stichwort. Wurde dessen Verwendung vertraglich geregelt?
Ohne eine solche Vereinbarung sollte man kein WTT-Projekt starten. Bei der ZHAW existiert ein von der Rechtsabteilung verfasstes Template. Es legt fest, dass sämtliche kommerziellen Nutzungsrechte innerhalb des definierten Anwendungsgebiets dem Industriepartner gehören. Wir als Erfinder haben aber das Recht, neue Ansätze weiterzuentwickeln.
Kam es an Ihrem Labor schon zu Konflikten um IP-Rechte?
Die Details eines IP-Vertrags müssen ausgehandelt werden. Dabei wird mitunter kontrovers diskutiert. Nachher nicht mehr. Der Vertrag wandert in die Schublade und dient nur noch der gegenseitigen Absicherung.