Die Digitalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft schreitet voran. Das Gewerbe ist gefordert. Wir stellen sechs Aargauer Unternehmen vor, die in ihre digitale Infrastruktur investiert haben und gut gefahren sind damit. Ausserdem erklärt Urs Widmer, Direktor des Aargauer Gewerbeverbandes, was die Digitalisierung mit dem Fachkräftemangel zu tun hat.
Oberentfelden - Aargauhotels
Seit Mitte Oktober werden Anrufer des Schlossrestaurants Habsburg von einem KI-Bot begrüsst. Einfache Fragen beantwortet das Tool selbständig, auf Kundenwunsch überweist er die Anrufenden an ein menschliches Gegenüber. «Jetzt haben unsere Mitarbeitenden mehr Zeit für die Gäste», freut sich Dominik Wyss, der CEO von Aargauhotels, eines Unternehmens, das neben der Habsburg zehn weitere Restaurations- und Beherbergungsbetriebe führt. An der Hotelfachschule Luzern hatte der heute 59-Jährige gelernt, dass es für einen Gastgeber wichtiger ist, zu rechnen als zu kochen; vor allem in der margenschwachen Gastronomie. Deshalb setzt er bei Aargauhotels konsequent auf IT. Die Buchung von Konferenz- und Seminarräumlichkeiten ist weitgehend digitalisiert. Seine jüngste Idee setzt Wyss im Golfrestaurant Oberentfelden um. Nach der Wiedereröffnung im kommenden Mai werden die E-Mail-Adressen von Kunden, die online reservieren, in die Kasse geladen. Diese erstellt nach dem Essen automatisch eine Rechnung und schickt sie auf ein Tablet am Tisch der Kunden. «Das bargeldlose Restaurant ist geboren», schwärmt Wyss. Für ihn ist jeder seiner elf Betriebe ein potenzielles Testlabor. Wenn er sieht, dass eine Lösung funktioniert, multipliziert er sie.
Brugg - Apotheke Süssbach AG
In einer Samstagnacht kann es hoch zu- und hergehen in der Notfallapotheke Süssbach neben dem gleichnamigen Gesundheitszentrum im ehemaligen Bezirksspital Brugg. Der eine verlangt ein Schmerzmittel, die andere einen Verband und alle fünf Minuten geht das Telefon. Da hilft ein automatisiertes Lager. «Der Apotheker am Ladentisch gibt eine Bestellung ein und hat das verlangte Medikament innerhalb von zehn Sekunden zur Hand», erklärt Geschäftsführerin Alexandra Ernst. Die Abschaffung der immer noch weit verbreiteten Schubladenwirtschaft war so erfolgreich, dass die Apotheke Süssbach auch einen Blisterautomaten anschaffte. Er erleichtert die Versorgung von chronisch Kranken, indem er bis zu sechs verschiedene Medikamente konfektioniert und in Beutel verschweisst, die den Patienten nach Hause oder ins Pflegeheim geschickt werden. Alexandra Ernst wäre auch für weitere Digitalisierungsschritte zu haben. Nur: In der Gesundheitsbranche stossen derlei Vorhaben immer wieder an Grenzen. So verfügen erst rund 5 Prozent der Süssbach Kunden über ein elektronisches Patientendossier (EPD). Dabei würde das EPD auch den Apothekerinnen und Apothekern das Leben erleichtern: «Wennwir Zugriff auf die Krankenakten unserer Kunden hätten, würden sich viele Routineabfragen erübrigen», kommentiert Alexandra Ernst.
Mellingen - Lastech AG
Das kann nicht jedes KMU von sich behaupten: Aus einem WTT-Projekt des Blechbearbeitungsunternehmens Lastech mit der Fachhochschule Nordwestschweiz FHNW entstand eine Spin-off-Firma, deren Software bei rund einem Dutzend Schweizer MEM-Firmen die Auftragserfassung teilautomatisiert. «Bei uns», sagt Lastech-CEO Reto Sägesser, «ist ZeroAdmin seit 2018 im Einsatz.» Seither werden Mails mit Kunden-Anfragen direkt ins ZeroAdmin geladen. Das Tool zieht die zugehörigen Daten aus dem ERP-System und bereitet ein Excel-Sheet vor, das schliesslich als Entscheidungs-Grundlage für die Techniker dient. Die Kalkulation wird genauer und Lastech spart bei der Bearbeitung der 250 bis 300 Offertanfragen, die wöchentlich eintreffen, mehr als einen Arbeitstag. «Ich bin ein Prozessmensch», sagt der 49-jährige Reto Sägesser über sich. Offensichtliche Fehlerquellen, umständliche Abläufe und Redundanzen gehen ihm gegen den Strich. Die Akribie zahlt sich aus: «Ohne unsere Effizienzsteigerungs- und Digitalisierungsmassnahmen», so Sägesser», «hätten wir das Wachstum der letzten Jahre nicht stemmen können.»
www.htz.ch/565
Hunzenschwil - Rosta AG
Weltweiter Technologieführer auf dem Gebiet der Gummifedersysteme für Grossanlagen in Minen, Kies- und Recyclingwerken, Verkauf über sieben Niederlassungen auf fünf Kontinenten, 95 Prozent Exportanteil. Rosta ist eine Perle der Schweizer Industrie. 2023 nahm das Unternehmen ein neues ERP-System in Betrieb. Es lässt zahlreiche Geschäftsprozesse als digital unterstützte Workflows laufen. «Nun ging es darum, Optimierungsprojekte für das Kalenderjahr 2024 zu identifizieren», sagt CEO Andrea Hürlimann. Dafür liess er vom HTZ einen KMU-DigitalScan durchführen. Heute, kaum ein Jahr später, ist das Kreditorenmanagement genauso digitalisiert wie die Freigabe von Routineofferten. Noch in Arbeit ist ein Projekt, das am KMU-DigitalScan-Workshop in Brugg spontan zur Sprache kam: der innerbetriebliche Umgang mit MS Teams. Eine Baustelle, die viele KMU kennen. Bei Rosta sind die Berechtigungen und Abläufe unterdessen neu aufgesetzt und dokumentiert. Doch der 46-jährige Hürlimann weiss, dass es Zeit brauchen wird, bis die neuen Umgangs- und Kommunikationsregeln von allen Mitarbeitenden gelebt werden: «Die Nutzung einer Plattform wie MS Teams hat eine stark kulturelle Komponente.»
Oftringen - Burki Scherer AG
In einer Branche, die so schnelllebig ist wie keine andere, setzt die Werbeagentur Burki Scherer auf Konstanz und langjährige Partnerschaften. Der 30-köpfige Betrieb erstellt Werbeund Kommunikationslösungen für Topmarken wie IWC, Emmi oder Rivella. Doch Treue darf nicht zu Trägheit führen. An einem Strategieworkshop der Geschäftsleitung diskutierte das Team um Geschäftsführer und Mitinhaber Stefano Di Giusto deshalb über Technologien, welche die visuelle Kommunikation disruptiv verändern könnten; namentlich über die Chancen und Risiken der generativen KI. Es resultierte ein Massnahmenpakt, das seit Januar umgesetzt wird. «Im Kern ging es darum, den Einsatz von KI-Tools wie ChatGPT, Midjourney und anderen zu systematisieren», erklärt Di Giusto. Er legt Wert auf strategische Partnerschaften sowie auf die Team- und Mitarbeiter-Schulung. Mittelfristig soll der «Kollege KI» zu einem festen Mitarbeiter werden. Für Stefano Di Giusto ist klar: «Technologien haben uns schon immer inspiriert. Das macht uns erfolgreich und zukunftsfähig.»
Aarau - Linder Blumen GmbH
Auf der Website von Linder Blumen zeigt sich Mathias Baumberger mit einer uralten Registrierkasse. Das Bild ist zumindest irreführend, denn im Alltag hätte Baumberger das Gerät schon lange ausrangiert. Als er 2018 beim traditionsreichen Blumenladen einstieg, stellte er alles auf den Prüfstand: «Das grosse Thema war die Produktivität», erinnert er sich. Wie man ein Geschäft auf Effizienz trimmt, wusste er von seinem vorherigen Job als Sachbearbeiter im Vertrieb von Mercedes-Benz.
Als Erstes wechselte Baumberger das ERP-System aus. Seither vergeht kaum ein Jahr, in dem er nicht ein neues Digitaltool aufschaltet: Er stellte den Webshop auf elektronische Zahlungsmittel um und band die Bezahl-App Twint in den 24 × 7-Selbstbedienungsladen beim Bahnhof Aarau ein. Die App tawk.to erlaubt es ihm, mit Kunden, die auf seiner Website nicht mehr weiterwissen, Kontakt aufzunehmen. Ein weiteres Tool erleichtert dem 38-Jährigen die Bewirtschaftung seiner 40 Social-Media- und Suchmaschinenauftritte mit wenigen Klicks. Nur die Auftragserfassung wird bei Linder Blumen noch von Hand erledigt. «Mir ist einfach noch kein passendes Produkt begegnet», sagt Mathias Baumberger.
Einfach produktiver
Das neue Schuljahr brachte für Betriebe, die KV-Lehrlinge ausbilden, eine Neuerung bei den überbetrieblichen Kursen (ÜK): Die nationale Interessengemeinschaft Kaufmännische Grundbildung Schweiz (IGKG) – die Trägerin der beruflichen Grundbildung Büroassistent/-in – verlangt, dass künftig alle Lernenden in ihren Lehrbetrieben ein Digitalisierungsprojekt umzusetzen haben.
Was für die 15- bis 16-jährigen Jugendlichen der Generation Z eine Aufgabe ist, zu der sie aufgrund ihrer Prägung vergleichsweise leicht Zugang fingen, ist für viele Gewerbebetriebe eine Hürde. Denn für die Definition und Begleitung eines Digitalprojektes braucht es IT-Knowhow seitens der Ausbildenden und eine IT-Infrastruktur als Spielwiese.
Beides ist bei weitem nicht in allen Unternehmen vorhanden (siehe auch Interview unten). Der Alltag in zahllosen Unternehmen ist nach wie vor geprägt von Medienbrüchen und holprigen Prozessen. Eine Studie der Fachhochschule Nordwestschweiz FHNW mit 1800 Teilnehmenden kam zum Schluss, dass nicht weniger als 44 Prozent der befragten Unternehmen mit dem Stand ihrer IT-Infrastruktur unzufrieden sind.
Arzu Çöltekin leitet das Institut für Interaktive Technologien der FHNW in Brugg-Windisch. Das Institut beschäftigt 40 Mitarbeitende und bearbeitet konstant rund 50 Digitalisierungsprojekte mit Schweizer Unternehmen. Çöltekin
kann nachvollziehen, was namentlich kleinere Firmen davon abhält, sich strategisch mit ihrer digitalen Infrastruktur zu beschäftigen.
«Viele zweifeln an der Nachhaltigkeit von IT-Investitionen», sagt die Informatikerin. Tatsächlich machen immer wieder Horrorgeschichten, etwa über gescheiterte Einführungen von «Enterprise Resource Planning»-Systemen (ERP), die Runde. «Doch diesbezüglich hat sich viel getan», erklärt Çöltekin.
Software als Dienstleistung
Die am Markt verfügbaren Lösungen seien ungleich einfacher zu installieren und zu betreiben als noch vor zehn Jahren. Der Hauptgrund ist technischer Natur: Business-Software kommt heutzutage praktisch immer aus der Cloud. Die meisten Anbieter offerieren ihre Software als Dienstleistung (Software-as-a-Service). Die Anschaffung und der Unterhalt von zusätzlicher Hardware erübrigen sich ebenso wie periodische Update-Übungen.
Sorgen bereitet den Unternehmerinnen und Unternehmern ausserdem die Sicherheit der digitalen Werkzeuge. Dies bestätigt auch der Digital Excellence Report 2023 von SwissICT. Der Branchenverband hat Unternehmen nach den grössten Herausforderungen bei digitalen Transformationsprojekten gefragt und das Thema «IT-Sicherheit und Datenschutz» rangiert auf Platz eins, weit vor dem Thema Fachkräftemangel.
Die Expertin der FHNW relativiert. Anwendungen in der Cloud seien sicher, meint Arzu Çöltekin. Der Grund: «Global aktive Hyperscaler wie Amazon, Google oder Microsoft können sich in Sachen Vertraulichkeit und Verfügbarkeit der Kundendaten keine Pannen leisten.»
Bleibt das Schlüsselthema Knowhow. Viele Unternehmerinnen und Unternehmer erkennen die Effizienzpotenziale in ihren Betrieben, haben Ideen zur Prozessoptimierung, sehen aber keine Möglichkeit, sie mit der vorhandenen Belegschaft
umzusetzen.
«In dieser Situation bietet sich der temporäre Zuzug von externen Kompetenzen an», erklärt Arzu Çöltekin. Ein lokaler IT-Partner kann bei der Evaluation einer Buchhaltungssoftware helfen, ein Freelancer kann eine Schnittstelle
schreiben, welche die Business-Software mit anderen Tools kommunizieren lässt.
Start mit Bestandesaufnahme
Voraussetzung für das Gelingen solcher Projekte ist allerdings eine mittelfristige Digitalisierungsstrategie: «Ein Unternehmen muss wissen, wo es steht und wohin es will», sagt die Expertin. Eine systematische Bestandesaufnahme liefern Tools wie der KMU-DigitalScan des HTZ (siehe unten).
Wenn eine digitale Basisinfrastruktur vorhanden ist, wenn der vielzitierte Schritt «from paper to digital» gelungen ist und alle erfolgskritischen Betriebsdaten (auch) elektronisch verfügbar sind, ergeben sich weitere Möglichkeiten.
Digitale Werkzeuge können nun auch helfen, Produkte und Dienstleistungen zu verbessern. Aus IT-Projekten werden Innovationsvorhaben. Werden sie in Kollaboration mit Schweizer Hochschulen durchgeführt, stehen sogar öffentliche
Fördermittel zur Verfügung.
Als Einstieg in ein reguläres Innovationsprojekt empfiehlt die Expertin ein Studierendenprojekt; zum Beispiel mit Studentinnen und Studenten, die im Rahmen ihrer Bachelorarbeit eine Machbarkeitsstudie erstellen.
Die FHNW hat dafür einen Marktplatz eingerichtet: Firmen schreiben ihre Vorhaben aus, Studierende ihre Kompetenzen. «Das Matching funktioniert sehr gut», sagt Arzu Çöltekin.
«Ein Unternehmen muss wissen, wo es steht und wohin es will.»
Arzu Çöltekin, Leiterin des Instituts für Interaktive Technologien an der FHNW
Interview mit Urs Widmer
«Jeder Betrieb hat Potenzial»
Urs Widmer, Geschäftsleiter des Aargauer Gewerbeverbandes AGV, über Chefs im Alltagsstress und die Aufgabe der Branchenverbände.
Studien zur Digitalisierung zeigen stets ein ähnliches Bild: Ein Drittel der KMU ist digital fit, ein weiteres Drittel kann mithalten und ein letztes Drittel hinkt hinterher. Entspricht diese Verteilung auch Ihrer Erfahrung?
Durchaus. Wir sehen, dass rund ein Drittel der Unternehmerinnen und Unternehmer keine Zeit findet, sich aus dem Alltagsstress auszuklinken und sich mit strategischen Fragen zu befassen.
Beunruhigt Sie diese Quote?
Die Implementierung von automatisierten Prozessen ist kein Selbstzweck. Es wird immer Betriebe geben, bei denen es ohne geht. Sicher ist aber, dass die Vermeidung von Medienbrüchen und effiziente Betriebsabläufe die drängendsten Herausforderungen des Aargauer Gewerbes zumindest lindern könnten …
Und das wäre?
Ganz eindeutig der Personalmangel: Zahlreiche unserer Betriebe haben Mühe, offene Stellen zu besetzen; wobei ich bewusst nicht vom vielzitierten Fachkräftemangel spreche. Uns fehlen auch Bewerber auf so genannt einfachen Jobs. In dieser Lage ist es sinnvoll, die Produktivität der bestehenden Belegschaft mit digitalen Werkzeugen zu steigern.
Auf der Website des AGV findet sich eine Musterweisung zum Thema KI. Sie beschreibt die regulatorischen Anforderungen an die gewerblichen Nutzer von Tools wie ChatGPT oder Midjourney. Wir kam es dazu?
Wenn wir zu einem Thema viele gleichlautende Anfragen erhalten, erstellen wir eine so genannte «Konserve». Wir ziehen einen Experten bei, der das Gebiet für uns aufarbeitet. Das Resultat sind Dokumente wie die Musterweisung, die wiederum als Grundlage für Informationsveranstaltungen in den lokalen Gewerbevereinen dienen können.
Zu den strategischen Zielen des AGV gehört die Digitalisierung allerdings nicht. Warum?
Als Verband, der das ganze Aargauer Gewerbe vertritt, würden wir uns damit wohl übernehmen. Wirtschaft findet in den Wertschöpfungsketten statt. Jede Branche kennt andere Prozesse. Deshalb sehe ich die Berufsverbände in der Pflicht, vermehrt Branchenlösungen anzubieten. Diejenigen, die dem AGV angeschlossen sind, ermutigen wir dazu.