Weltweit werden jährlich rund 16,5 Milliarden Tampons hergestellt. Rund die Hälfte davon auf Maschinen der Ruggli AG. Jetzt wollen die Koblenzer eine neue Maschinengeneration mit doppelter Produktionskadenz auf den Markt bringen.
Irgendwo im hinteren Teil der Halle summt ein Bohrer. Es riecht nach Kühlemulsion. Zwei Mitarbeitende – einer davon im blauen Overall – beugen sich über eine Planzeichnung. Ein Tag wie jeder andere bei der Ruggli AG, einem typischen Schweizer Vertreter der Maschinen-, Elektro- und Metallindustrie (MEM): 35 hochqualifizierte Mitarbeitende am Standort Schweiz, hohe interne Wertschöpfung, 100 Prozent Exportanteil.
CEO Jürg Lutz – schwarzer Anzug und weisses Hemd – ist gern in der Produktion. Hier kann er seine Textilmaschinen sehen, riechen und spüren. Der studierte Betriebswirt ist seit sieben Jahren bei Ruggli; unterdessen hält er auch eine Beteiligung an der Firma.
«Es ging uns lange viel zu gut», erzählt der 48-Jährige Berner, «wir waren nicht mehr innovativ».
Was folgte, war ein in ökonomischen Lehrbüchern oft beschriebener Dominoeffekt: Er fängt bei Umsatzrückgängen an, führt zu Kostenproblemen und endet nicht selten bei Liquiditätsengpässen.
Blick zurück auf eine wechselvolle Geschichte: 1962 stellt Firmengründer Karl Ruggli der Welt seine erste Tamponmaschine vor und positioniert sich als Lieferant von Hygieneartikelherstellern wie Procter & Gamble (Tampax), Johnson & Johnson (o. b.) und Kimberly-Clark. Anfang der Achtzigerjahre dann der erste Einbruch: Der Tampon gerät in Verdacht, Kreislauf- und Organversagen zu verursachen. Millionen von Frauen steigen aus Angst vor dem Toxic Shock Syndrom (TSS) auf Binden um.
Der Markt erholt sich wieder; und zwar so sehr, dass er in den Neunzigerjahren Eigenmarkenhersteller anlockt. Sie alle brauchen Maschinen. Ruggli avanciert zum Technologieführer mit einem Weltmarktanteil von gut 50 Prozent.
«Wir ritten die Welle voll mit»,
Zehn Jahre später kommt es zum perfekten Sturm: Der Maschinenmarkt ist gesättigt. In Europa und Nordamerika sinkt der Tamponverbrauch demographiebedingt. Die Chinesinnen – auch jene aus der Mittelschicht – fremdeln mit dem Tampon und die Wachstumsmärkte in Asien und Lateinamerika nehmen gerade einmal die Überkapazitäten der anderen Regionen auf.
In Koblenz muss der Personalbestand von einst über 60 Mitarbeitenden halbiert werden. 2016 zieht der Eigentümer des Unternehmens die Notbremse. Er setzt Jürg Lutz als CEO auf Zeit ein.
Der neue Mann an der Spitze baut umgehend die interne Entwicklungsabteilung aus und zieht ein auf Eis gelegtes Innovationsprojekt aus der Schublade. Das Ziel: Bei den Kunden mit einer markant verbesserten Herstellungstechnologie einen Investitionsschub auslösen. Der ehrgeizige Plan sieht eine Verdoppelung der Produktionskadenz und einen Ausstoss von 250 Tampons pro Minute und Maschine vor.
Die Arbeiten schreiten planmässig voran und geraten auch nicht aus dem Takt, als einer der Projektpartner – ein amerikanischer Markenhersteller – aussteigt. Die technologische Umstellung von einer wellengetriebenen Mechanik auf softwaregesteuerte Elektromotoren gelingt und 2019 scheint das Ziel nah. Doch just in diesem Moment macht ein fünf Zentimeter langes Bändchen Probleme. Die Rede ist vom Baumwollfaden, mit dem frau den Tampon nach dem Gebrauch entsorgt.
Der sogenannte Rückholfaden wird am Anfang des Herstellungsprozesses um einen Wattebausch (französisch: tampon) gebunden, der anschliessend gepresst und mit einem hygienischen Vlies überzogen wird. Während dieser Zeit ist das Bändchen zwar immer dabei, sollte aber nie mittendrin sein. Geschieht das trotzdem, kann es die Maschine zum Stillstand bringen.
Das bestehende luftstrombasierte Fadenhandling – so stellte sich heraus – war mit der doppelten Produktionskadenz überfordert. Die Zuverlässigkeit litt. Was das bedeutet, macht ein Rechenbeispiel klar: Verlöre die neue Maschine nur jeden millionsten Faden, käme es alle vier Tage zu einem Produktionsunterbruch. Da jedoch Tamponfabriken auf einen möglichst wartungsfreien 7 × 24-Betrieb ausgelegt sind, musste
etwas geschehen in Koblenz.
«Wir erkannten, dass wir für die Optimierung des Fadenhandlings einen Partner brauchen»,
Die Entwicklungsabteilung reaktivierte den bereits bestehenden Kontakt zum HTZ, das Ruggli mit dem Institut für Thermound Fluidengineering der Fachhochschule Nordwestschweiz FHNW vernetzte. Im März 2021 bewilligte der Forschungsfonds Aargau einen Projektbeitrag in der Höhe von gut 80 000 Franken.
Unterdessen ist das erste Etappenziel erreicht: Die Stabilisierung des Fadens auf dem Weg durch die neue Maschine hält auch höheren Taktraten stand. Die zweite Etappe läuft noch. Im Kern geht es um die Rückführung des Druckluftverbrauchs der neuen Modelle auf das Niveau der Vorgängergeneration.
Lutz will verhindern, dass die Ruggli-Kunden vor einer Ersatzbeschaffung ihre Druckluftkapazitäten erhöhen müssen. Seine jahrelange Vertriebserfahrung in der MEM-Industrie sagt ihm, dass die Kunden solche anschaffungsbedingten Investitionen gar nicht mögen.
«Würden sie trotzdem nötig», so Lutz, «wäre unser Spielraum
bei der Preisgestaltung erheblich eingeschränkt».
Bis Mitte 2022 haben die Entwickler von Ruggli und der FHNW noch Zeit, die Düsen und Steuerungen der Ansaug- und Blaseinrichtungen zu optimieren. Dann sollte das Projekt abgeschlossen sein.
Der CEO bereitet derweil den Markteintritt der neuen Maschinengeneration vor. Die Marktsondierungen sind im vollen Gang. Erste Gespräche mit potenziellen Grosskunden laufen.
«2024 wollen wir die ersten TMX-Modelle ausliefern.»
«Es war eine Kaltakquise»
Unterdessen zählt das Koblenzer Unternehmen zu seinen Stammkunden. 2015 lieferte er eine erste Machbarkeitsstudie. 2018 initiierte er eine Kooperation mit der FHNW, die zu einer Beschleunigung der Verknotung von Baumwollfaden und Wattebausch führte. Beim Projekt Fadenhandling unterstützte er die Ruggli-Mitarbeiter bei der Abfassung des Förderantrags zuhanden des Forschungsfonds Aargau und begleitete sie auf eine Patentrecherche beim Institut für Geistiges Eigentum IGE. Später nahm er an den periodischen Projektmeetings von Ruggli und FHNW teil.
«Wir sind da, wenn es uns braucht»,
Interview mit Daniel Weiss
Daniel Weiss ist Dozent am Institut für Thermo- und Fluid-Engineering der Fachhochschule Nordwestschweiz FHNW. Der Physiker hat das Projekt Fadenhandling wissenschaftlich begleitet.
Wieso kam das HTZ mit der Problemstellung der Ruggli AG zu Ihnen, Herr Weiss?
Weil das Fadenhandling in den Sondermaschinen der Ruggli AG Luftströmungen verwendet. Luft ist wie Wasser und andere Gase ein sogenanntes Fluid, und wir studieren hier deren Strömungsverhalten.
Ihr Institut wickelt pro Jahr zwischen 20 und 30 Innovationsprojekte mit Industriepartnern ab. Auf welchen Gebieten?
Konkrete Projekte kann ich aufgrund unserer Verpflichtung zur Vertraulichkeit keine nennen. Nur so viel: Wir arbeiten mit Start-ups, KMU und Konzernen aus den unterschiedlichsten Branchen zusammen. Das mag überraschen, ist aber für uns Insider alles andere als erstaunlich, denn die Strömungstechnik ist aus einer modernen Gesellschaft nicht wegzudenken. Mit unserem Fluidik-Knowhow berechnen wir die Flugbahn von Flug- und Wurfkörpern, wir optimieren Rohrsysteme und sind insbesondere im Bereich der Klimatechnik sehr gefragt. Das Einsatzgebiet beginnt bei der Kühlung von Gebäuden und reicht bis zur Elektromobilität: Bei batteriegetriebenen Fahrzeugen ist die Ableitung der überschüssigen Wärme eine der grossen technischen Herausforderungen.
Worin bestand die Herausforderung beim Projekt Fadenhandling?
Die Stabilisierung des Tamponfadens ist vergleichsweise einfach, weil der Luftstrom gerichtet ist. Er entsteht in einem Gebläse, das sich über eine Software und Sensorik kontrollieren lässt. Schwieriger ist es, das Ansaugen – die Ergreifung – des losen Fadens zu optimieren. Denn beim Saugen haben wir es mit Umgebungsluft zu tun, die aus verschiedenen und wechselnden Richtungen kommen kann.
Sie hatten eine doppelte Zielvorgabe: Stabilisierung des Handlings und Reduktion des Luftverbrauchs. Wie gingen Sie vor?
Eine Schlüsselrolle spielen die Düsen, durch welche die Luft strömt. Der Weg zu kreativen Ideen führt über Berechnungen und Testreihen. Wir stellen die Düsen und andere Komponenten des Fadenhandling-Moduls im institutseigenen Labor auf Prüfstände und studieren ihr Verhalten. Man muss zuerst verstehen, um nachher optimieren zu können.
Wie stark waren Sie persönlich in das Projekt involviert?
(lacht) Die Knochenarbeit machen bei uns die wissenschaftlichen Assistierenden. Es handelt sich um Wissenschaftler, Ingenieurinnen und Ingenieure, die nach dem Bachelor- oder Masterabschluss nicht direkt in die Industrie gehen, sondern noch für ein paar Jahre an der Hochschule bleiben. Neben ihrer Tätigkeit in der Lehre sind sie vor allem in der angewandten Forschung und Entwicklung tätig. Im konkreten Fall Ruggli war auch ein Bachelorstudent involviert. Er verfasste im Frühlingssemester 2020 eine Arbeit dazu.
Wie lautete der Titel?
«Strömungstechnische Analyse des Ansaugsystems für einen Faden in einer Textilproduktionsmaschine.» Der Autor konnte das Verbesserungspotenzial schon sehr genau aufzeigen.