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«KI ist absolut alltagstauglich»

Seit der Lancierung von ChatGPT im vergangenen November steht die Welt im Bann der Künstlichen Intelligenz. Susanne Suter, Professorin am Institut für Data Science an der Fachhochschule Nordwestschweiz FHNW, klärt auf. Sie sagt, wie KMU aus Industrie- und Dienstleistungsbranchen von KI-Algorithmen profitieren können und wie man ein KI-Projekt sauber aufsetzt.

Susanne Suter

Vor ihrer Zeit an der Fachhochschule Nordwestschweiz FHNW sammelte Susanne Suter Erfahrungen in der Industrie: Sie arbeitete fünf Jahre als Projektleiterin und Softwareentwicklerin bei der Zürcher Firma Super Computing Systems. Seit 2021 ist sie eine von sieben Professoren am Institut für Data Science auf dem Campus Brugg-Windisch. Zurzeit betreut sie fünf WTT-Projekte mit Schweizer KMUs. Ausserdem doziert sie in der Aus- und Weiterbildung über Künstliche Intelligenz und Maschinenlernen.

Im Interview mit Prof. Dr. Susanne Suter

Haben Sie selber ein Konto bei ChatGPT, Frau Suter?

(lacht) Selbstverständlich. Ich nutze sogar GPT4, die neueste, zahlungspflichtige Version des Sprachmodells. Die 20 Dollar im Monat lasse ich es mir wert sein. 

Wozu brauchen Sie Ihren Account?

Ich erstelle Themenübersichten, suche Vorlagen für Präsentationen oder lasse das System kleine Codes für meinen Unterricht schreiben. ChatGPT und die anderen KI-Modelle erhöhen ganz generell die Produktivität. Das gilt in der Wissenschaft, aber offenbar auch in der Wirtschaft. Ich weiss von etlichen Unternehmerinnen und Unternehmern, die ChatGPT nutzen.

Wie steht es mit der Vertraulichkeit, wenn man GPT in dieser Form als persönlichen Assistenten nutzt?

Grundsätzlich verwenden KI-Modelle alle im Internet auffindbaren Daten. Deshalb ist Vorsicht geboten: Was geheim bleiben soll – zum Beispiel Produktionsziffern, Kundeninformationen oder Personendaten –, gehört nicht in eine Anfrage an ChatGPT.

Es ist da und dort die Meinung zu hören, dass Sprachmodelle wie GPT Wirtschaft und Gesellschaft grundlegend verändern werden. Handelt es sich Ihrer Meinung nach tatsächlich um eine Revolution?

Die enorme Aufmerksamkeit für KI setzte ein, als Open AI sein GPT-Modell im letzten November mit einem Chat verknüpfte. Seither ist KI alltagstauglich. Und trotzdem: Ich würde eher von einer Evolution sprechen als von einer Revolution. Die essenziellen Bausteine für KI wurden in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts gelegt. Seither wachsen die Möglichkeiten mit der Verfügbarkeit von Rechenleistung. Ein Riesenschritt auf diesem Weg war sicher der Durchbruch des Deep Learnings (DL) vor gut zehn Jahren.

Was zeichnet DL aus?

DL-Modelle erkennen in Texten, Bildern, Tönen und allen möglichen digitalen Daten Regelmässigkeiten, Muster und Korrelationen. Man spricht von diskriminativer KI. Dies in Abgrenzung zur generativen KI im Stile von GPT. Hier werden die Muster und Korrelationen im historischen Datenmaterial genutzt, um etwas Neues entstehen zu lassen.

Viele Unternehmerinnen und Unternehmer fragen sich, wie sich KI-Modelle für die Steigerung der betrieblichen Produktivität- und Wettbewerbsfähigkeit nutzen lassen. Wie lautet Ihre Antwort?

Als Erstes muss geklärt werden, welches unternehmerische Problem mit KI gelöst werden soll. Was soll das Modell ausgeben? Daraus ergibt sich die zweite Frage: Gibt es bestehende KI-Modelle wie GPT, die diese Aufgabe lösen oder die mit wenig Aufwand auf die betrieblichen Bedürfnisse angepasst werden können?

Was, wenn dies nicht möglich ist?

Dann besteht die Möglichkeit, eigene KI-Modelle zu bauen. Dabei dreht sich viel um die Qualität des Datenmaterials, das man mithilfe der KI-Algorithmen auswerten will. Gute Daten informieren uns über die analoge Welt da draussen; über Temperaturen, Frequenzen, Material- und Geldflüsse oder die Personalfluktuation in einem Unternehmen. Sind die Daten unsystematisch erhoben oder lückenhaft, ist die Aussagekraft bescheiden und die Auswertung mit KI wenig gewinnbringend.

«Das System liefert eine ärztliche Zweitmeinung aufgrund der KI-Auswertung von Röntgenbildern.»

Werden wir konkret. Inwiefern können Unternehmen – zum Beispiel aus der fertigenden Industrie – von KI profitieren?

Wir sehen, dass die Industrie bestrebt ist, Routineaufgaben, die viel Fleiss oder eine konstant hohe Konzentration erfordern, zu automatisieren; zum Beispiel die Aussortierung von schadhaften Teilen in einer Produktionsstrasse. 

Das Institut für Data Science bearbeitet konstant rund 40 WTT-Projekte. Woran arbeiten Sie persönlich zurzeit?

Aktuell läuft ein Projekt in Zusammenarbeit mit dem Medtech-Startup Nostic Solutions. Es entwickelt eine Software, die Zahnärzte bei der Erkennung von Karies unterstützt. Das System liefert eine ärztliche Zweitmeinung aufgrund der KI-Auswertung von Röntgenbildern.

Wie sieht die Kostenstruktur einer solchen KI-Anwendung aus?

Der Aufwand für die Entwicklung einer Pilotapplikation liegt im tiefen bis mittleren 5-stelligen Bereich. Dazu kommen Gebühren für KI-Dienste oder das Cloud-Computing. Die weiteren Kosten hängen von der Komplexität des zu lösenden Problems ab. Unbedingt zu berücksichtigen ist immer die so genannte Annotation, das Anlernen durch Fachexperten. KI-Algorithmen müssen vor dem Einsatz mit Datensätzen gefüttert werden, aus denen sie ihre Schlüsse ziehen können.

Beim Beispiel Karies-Diagnostik wären das Röntgenbilder von kariösen Zähnen?

Richtig. Nostic Solutions muss der KI in historischen Röntgenbildern zeigen, wo sich Karies gebildet hat und die kritischen Stelle mit einem digitalen Stift markieren. Diese Arbeit können nur ausgebildete Zahnärzte und Zahnärztinnen erledigen. 

Spracherkennungstools verstehen unterdessen auch Mundart …

Unser Institut ist führend bei der Entwicklung von KI-Modellen für die Sprache-zu-Text- und Text-zu-Sprache-Übersetzung von schweizerdeutschen Dialekten in Schriftsprache und vice versa.

Nun hört man von Firmen, die planen, ihren Kundenservice mit so genannten Chatbots zu automatisieren. Wie realistisch sind solche Ideen?

Technisch sind die Grundlagen dafür vorhanden. Die kritischen Fragen stellen sich auf der organisatorischen Ebene: Weise ich als Unternehmen die Kunden darauf hin, dass sie mit einer Maschine reden? Wie geht das Unternehmen vor, wenn der Bot Falschinformationen abgibt? Wann und wie erfolgt die Überweisung an eine menschliche Fachperson?

KI-Anwendungen der neuesten Generation basieren auf neuronalen Netzen. Die Eingangsinformationen werden nicht – wie in klassischen Computerprogrammen – regelbasiert verarbeitet, sondern in so genannten hidden layers gewichtet und neu arrangiert. Wie transparent sind diese Verfahren?

Sie sprechen das Blackbox-Problem an. KI-Modelle basieren auf Milliarden von Merkmalen in den eingespeisten Beispielen. Die Software lernt ohne menschliches Zutun, welche Verknüpfungen statistisch aussagekräftig sind. Das macht solche Modelle tatsächlich intransparent. In der Literatur ist ein Experiment bekannt, bei dem ein KI Modell trainiert wurde, ärztliches Personal von Pflegepersonal zu unterscheiden. Das Modell erreichte eine Genauigkeit von 82 Prozent. Erst später stellte sich heraus, wie die hohe Trefferquote zustande kam. Bei der Analyse der Bilder von Mitarbeitenden orientierte sich das System an einigen wenigen Gesichtsmerkmalen wie der Länge der Kopfbehaarung; kurze Haare gleich Mann gleich Arzt, lange Haare gleich Frau gleich Pflegekraft.

Wie kann man KI-Anwendungen davon abhalten, «falsche» Dinge zu lernen?

Es gibt Methoden, die das Entscheidungsverhalten einer KI-Anwendung analysieren und nachvollziehbar machen. Basierend auf diesen Erkenntnissen kann man das Lernverhalten indirekt steuern; indem man zum Beispiel zusätzliche Beispieldaten einspeist oder Beschränkungen formuliert. In unseren angewandten Forschungsprojekten setzen wir diese Werkzeuge ein.

Nehmen wir an, eine Unternehmerin, ein Unternehmer beschliesst, ins KI-Zeitalter einzusteigen. Welches Vorgehen empfehlen Sie?

Kleinere Betriebe ohne einschlägige Erfahrung tun gut daran, vor dem Start eine Machbarkeitsstudie durchzuführen; eventuell gefördert durch Fördereinrichtungen wie das Hightech Zentrum Aargau, den Forschungsfonds Aargau oder die Innosuisse. Dabei können auch geeignete Partner für die Projektfortführung evaluiert werden. 

Nehmen wir an, die Machbarkeit ist erwiesen. Was dann?

Dann gilt es parallel zum Projektfortschritt internes KI-Know-how aufzubauen. In unseren Projekten mit der Wirtschaft versuchen wir, neben Technologien auch möglichst viel Wissen zu transferieren. Doch am Ende ist es wichtig, dass die Wirtschaftspartner eine KI-Anwendung warten können. KI-Anwendungen sind (noch) keine Plug-and-Play-Systeme: sie müssen nach der Inbetriebnahme überwacht, optimiert und gegebenenfalls weiterentwickelt werden.

Bilden die Schweizer Hochschulen genügend KI-Experten und -Expertinnen aus?

Gemessen an der künftigen Nachfrage sind es klar zu wenig angemeldete Studierende. Der Bedarf an Menschen, die den Einsatz von KI beurteilen und planen können, wird in den kommenden Jahren stark wachsen. Deshalb bieten wir neben der Ausbildung ein starkes Programm in der berufsbegleitenden Weiterbildung an.